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Titel
Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie


Herausgeber
Bluhm, Harald; Skadi Krause
Erschienen
Paderborn 2015: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
49,90€
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl-Heinz Breier, Universität Vechta

„Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft“1, schreibt Alexis de Tocqueville zu Beginn seines Buches „Über die Demokratie in Amerika“, und es ist die Frage, welche neue politische Wissenschaft Tocqueville seinen französischen Lesern präsentiert. Für ihn, den Amerika-Reisenden, war es entscheidend zu erfahren, wie und mit welchen Begrifflichkeiten die Amerikaner ihre politische Existenz in Gesellschaft ausleuchten: „Richten wir unseren Blick auf Amerika, nicht um die Einrichtungen, die es für sich schuf, sklavisch nachzuahmen, sondern um diejenigen besser zu verstehen, die uns gemäß sind, nicht so sehr um Vorbilder als um Einsichten zu gewinnen und um eher die Grundsätze als die Einzelheiten seiner Gesetze zu übernehmen.“2

Wenn Tocqueville von „Einsichten“ und „Grundsätzen“ spricht, so geht es ihm darum, seinen in Freiheitsangelegenheiten unerfahrenen Landsleuten kategoriale Ordnungsmuster und alltagspraktische Begrifflichkeiten zur Hand zu geben. Kategorien sind für den sensiblen Beobachter Tocqueville geradezu Denkgewohnheiten, und damit knüpft der Montesquieu des 19. Jahrhunderts – wie sein berühmter Landsmann – an den esprit général und die ihm innewohnenden Mœurs an. Einerseits bereist Tocqueville die Vereinigten Staaten, um die Menschen und deren Lebensgewohnheiten in ihrer Eigenart zu verstehen, und andererseits will er in Erfahrung bringen, wie der sich im Alltag manifestierende Geist der Gesetze die politische Ordnung prägt und fundiert. In betonter Abwendung von herrschaftsfixierten Deutungsmustern und in pointierter Abkehr von etatistisch aufgeladenen Redeweisen unternimmt er es, einer Lebensweise der Freiheit sprachlich Kontur zu verleihen.

Allein von angemaßter Herrschaft sich zu befreien, reicht dem Analytiker der Freiheit bei weitem nicht aus. Freie Menschen, die ihre Lebensweise wertschätzen oder gar lieben, müssen vielmehr darauf bedacht sein, eine stabile Freiheitsordnung zu gründen und diese in ihren Sitten, Gewohnheiten und symbolischen Ausdeutungen als möglichst intakte Ordnung zu bewahren. Insofern ist Alexis de Tocquevilles Ansinnen im weitesten Sinne der praktischen Philosophie zuzuordnen. Seine weltverbundenen Wirklichkeitsdeutungen, die mehr einer erfahrenen Urteilskraft vertrauen als der positivistischen An- und Einnahme eines archimedischen Punktes, wollen ganz konkret über die Chancen und Gefahren von Bürgerfreiheit in einer Republik aufklären. Insofern ist seine „neue“ politische Wissenschaft rhetorisch angelegt. Als Bürgerwissenschaft, die der Einbürgerung in eine Bürgerordnung mental zur Seite stehen mag, will sie die Leserschaft für sich gewinnen und von den humanen sowie zivilisierenden Vorzügen einer freien Lebensweise überzeugen.

Sosehr er auch – wie im vorliegenden Band zu recht – als „Analytiker der Demokratie“ angesehen wird, Tocqueville schreibt stets als politischer Mensch. Als politischer Denker wendet er sich an seine Mitbürger, und er weiß sehr genau, dass er sich damit auf das Feld der Meinungen begibt. Es ist originär dieses Terrain einer politischen Öffentlichkeit, auf dem Tocqueville als publizierender Wissenschaftler wirkt und Verantwortung übernimmt. Denn das Ancien Régime ist endgültig passé, die Lebensverhältnisse demokratisieren sich, aber in den Köpfen und Gewohnheiten der Befreiten ist die Republik, gelinde gesagt, noch nicht gefestigt.

Hervorgegangen aus dem DFG-Projekt „Theorie und Praxis der Demokratie. Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Konzeption einer ‚Neuen Wissenschaft der Politik‘“ „wird im vorliegenden Band vermittels multiperspektivischer und interdisziplinärer Erörterung die Spezifik von Tocquevilles politischer Wissenschaft erkundet“ (S. 22). „Was neu ist an der neuen Wissenschaft, liegt aber nur zum Teil auf der Objektebene, denn um des Objektes habhaft werden zu können, ist in seinen Augen eine andere Form von Wissenschaft nötig. Dazu zählen zumindest folgende Aspekte: Es handelt sich um keine spekulative Wissenschaft, sondern um breite und empirisch ausgerichtete Analysen, die von ihrer komplexen Betrachtungsperspektive, welche normative und deskriptive Motive mischt, von vornherein nicht rationalistisch verkürzt werden dürfen.“ (S. 23)

So unterteilen die Herausgeber – „um des Objektes habhaft werden zu können“ – ihren Band in drei thematische Blöcke: „Den ersten Block bilden fünf Beiträge, die methodische Fragen der neuen Wissenschaft ins Zentrum rücken. […] Der zweite Block enthält Aufsätze, die von einzelnen Themenfeldern (Religion, Gefängnis, Literatur) ausgehend Tocquevilles Werk erschließen. […] Im abschließenden Block dominieren Aktualisierungen.“ (S. 23f.) Sosehr nun auch alle Beiträge die unverwechselbare Schrift ihrer jeweiligen Urheberin und ihres jeweiligen Autors tragen, ein großer Gewinn des Gesamtbandes – und für Tocqueville-Forscher eine Freude – liegt darin, dass die internationale Rezeptionsgeschichte zum Teil im Haupttext, aber insbesondere im ausführlichen Fußnotenapparat fein säuberlich aufgeführt und auch interpretativ verortet worden ist. Dies ist – zumal auch in ideengeschichtlicher Perspektive – dem Herausgeberduo sehr gelungen.

Was die einzelnen Texte anbelangt, so fällt in der Gesamtschau jedoch eines auf: Tocquevilles Weitsicht reicht in der Tat bis in unsere Gegenwart. Denn sogar an den Beiträgen dieser Veröffentlichung zeichnet sich Tocquevilles analytischer Horizont ab. Es sind insbesondere die angelsächsischen Autoren wie Aurelian Craiutu (Bloomington, USA), Michael Drolet (London) Cheryl B. Welch (Harvard, USA) und Alan S. Kahan (Oxford), die prononciert mit Tocqueville schreiben. Ihre wortmächtige Überzeugungskraft, ihre rhetorische Prägnanz sowie das stilistische Feingefühl bezeugen eindrucksvoll, welchem Lehrmeister sie sich anvertraut haben. Darüber hinaus schöpfen sie aus dem interpretativen Fundus der Werke von Seymour Drescher, James T. Schleifer, Harvey Mansfield, Sheldon Wolin und Melvin Richter. So zeigen sie intellektuell Flagge und in ihrer feinsinnig pointierenden Argumentation dokumentiert sich zugleich ihr publizistisches Engagement. Als politische Wissenschaftler, die zur öffentlichen Ausdeutung unserer gemeinsamen Realität nicht unerheblich beitragen, sind sie sich ihrer Mitverantwortung für die Gesellschaft, in der sie leben, bewusst. Sie lehren, die Welt mit Tocquevilles Augen zu sehen.

Demgegenüber entstammen andere Beiträge, insbesondere die Aufsätze von Bluhm und Krause, offensichtlich einer anderen Wissenschaftstradition. Die Herausgeber schreiben über Tocqueville. Wenngleich auch wissenschaftsterminologisch versiert, so wirken ihre Abhandlungen sprachlich gewunden, zwar stets um systematische Einordnung bemüht, aber ohne Sinn für einen bürgernahen common sense. Da wird es verständlich, wenn die Herausgeber in ihrer Darlegung der deutschen Rezeptionsgeschichte zu Alexis de Tocqueville wegbereitende Tocqueville-Interpreten wie Siegfried Landshut und Wilhelm Hennis und ebenso erstklassige Tocqueville-Kenner wie Ernst Vollrath, Michael Hereth und Hans Arnold Rau unter den Tisch fallen lassen. Von André Jardins fulminantem Meisterwerk, dessen deutsche Übersetzung an sprachlicher Klarheit und Eleganz kaum zu überbieten ist, ist ebenso wenig die Rede.

Der Beitrag von Hubertus Buchstein und Siri Hummel bildet neben dem Aufsatz von Matthias Bohlender eine wohltuende Ausnahme. In einleuchtend klarer Sprache beenden Buchstein und Hummel ihren Vergleich der Schriften von Alexis de Tocqueville mit denen von John Stuart Mill mit folgendem Fazit: „Sozialwissenschaftler, die ihre Arbeit mit einem hohen methodischen Aufwand betreiben, produzieren zuweilen weniger Einsichten [,] als Sozialwissenschaftler, denen nachgesagt wird, dass sie noch nicht einmal über eine ‚richtige‘ Methode verfügen.“ Ein Befund – so schließen sie –, der „Tocqueville möglicherweise gefallen hätte“ (S. 259).

Gewiss, denn „Tocqueville ist auch Politiker, wenn er schreibt. Er ist“ – wie sein französischer Landsmann Michael Hereth bereits 1979 in seinem Buch „Alexis de Tocqueville. Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie“ formuliert – „ein Politiker, der die Republik in den Köpfen der Bürger verankern will“ (S. 86).

Anmerkungen:
1 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hrsg. v. Jacob P. Mayer / Theodor Eschenburg / Hans Zbinden, München 1984 (1. Aufl. 1976), S. 9.
2 Ebd., S. 4.

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